Jean-Christophe Ammann / MAYDAY! / Heiner Blum in Nürnberg
Jetzt, im Mai 2002, findet in Nürnberg der Bundeskongress von amnesty international statt. Die IG Metall hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu diesem Anlass vor Ort eine künstlerische Arbeit zu realisieren. Der Vorsitzende der IG Metall, Klaus Zwickel, hat diesen Prozess nicht nur initiiert, sondern bis ins Detail begleitet.
Dem Offenbacher Künstler Heiner Blum ist ein Werk gelungen, das als Meilenstein anzusehen ist. Am liebsten möchte er gar nicht von Kunst reden, denn er möchte nicht, dass die Menschen mit Kunst - er möchte, dass sie mit einer Realität konfrontiert werden. Das genau war der Standpunkt von Siah Armajani zu Beginn der 80er Jahre, als er den künstlerischen Eingriff in den öffentlichen Raum von seiner Funktion her dachte und damit der persönlichkeitsbezogenen Komponente, sprich: Stil, »Handschrift« eine Absage erteilte.
Was sieht der Besucher und Stadtbewohner in Nürnberg? Er sieht auf der Dachbegrenzung, dreier prominenter Gebäude, allen voraus das Gewerkschaftshaus, Namen in Leuchtbuchstaben stehen, in der Höhe von einem Meter und einer Länge von bis zu zwanzig Metern. Er wird sich vielleicht fragen, ob diese fremdklingenden Namen eine Reklame darstellen, z.B. für einen Kräuterlikör aus fernen Ländern. Nähert er sich den Gebäuden, wird er feststellen, dass auf einem großformatigen Infoscreen das Porträt und die Daten der verfolgten Personen, die den leuchtenden Namen tragen, zu sehen und zu lesen sind. Etwas Ungewöhnliches ereignet sich: Eine Person, Mann oder Frau, die weit weg von hier, irgendwo in einem Kerker darbt, wird plötzlich unerhört präsent, gerät buchstäblich ins Rampenlicht. Die Buchstaben in roter Farbe leuchten nachts von innen heraus. Im Inneren der Gebäude gibt es ein Infodesk mit Internetanschluss über die Aktivitäten von Amnesty International und die vielen verfolgten und inhaftierten Menschen, für welche die Organisation weltweit einsteht. Es gibt auch die Möglichkeit, sich persönlich für diese Menschen einzusetzen.
Natürlich stellt sich die Frage, was passiert mit den Menschen, die freigelassen werden. Heiner Blum hat vorgesorgt: Die Verankerung der Buchstaben erfolgt über eine Schiene. Die Auswechslung ist leicht zu handhaben. Die Firma Nordlicht in Offenbach/M. kann innerhalb von wenigen Tagen Buchstaben nachliefern. Die Daten der verfolgten Menschen sind gespeichert und werden kontinuierlich ergänzt.
Ich frage Heiner Blum, ob er denn sicher sei, dass diese Art der Betreuung auch garantiert ist. »Das war der Sinn der Arbeit«, antwortet der Künstler. »Die Betreuung ist ein zentrales Moment und ist vertraglich zugesichert.« Was ist das Besondere an der Arbeit von Heiner Blum? Ich denke, es ist der Modellcharakter. Nach zwanzig Jahren eines skulpturalen »Site Specific«-Denkens kommt ein Künstler und stellt uns ein Werk vor, das eine »Million mal« reproduzierbar ist. Ich finde das wunderbar! Klaus Zwickel ist ein einflussreicher, vielgereister und einfühlsamer Mensch. Ich bitte ihn, auf seinen vielen Vorträgen, in seinen vielen Gesprächen nah und fern, auf die Übertragung dieses Modells hinzuweisen. Dies betrifft ebenso die vielen Kulturdezernenten, nah und fern. Bevor sie sich den Kopf zerbrechen, was denn an Kunst im öffentlichen Raum in ihrem jeweiligen Gemeinwesen anstünde, mögen sie sich doch über die von Heiner Blum geschaffene Arbeit Gedanken machen. Und diese Bitte trage ich an all die vielen Unternehmen, die sich produktiv um die Kunst und deren Vermittlung in ihren Häusern bemühen.
Manchmal denke ich, wie recht hatte doch Joseph Beuys, als er den erweiterten Kunstbegriff, also die Soziale Plastik schuf.
Pressemitteilung der IG Metall und Amnesty International zu MAYDAY von Heiner Blum
Nürnberg. Ein halbes Jahr wartete Taye Woldesmiate auf eine Begründung für seine Verhaftung. Drei Jahre vergehen, bis er vor Gericht steht. Nach drei weiteren Jahren kommt endlich das Berufungsverfahren in Gang. Und das hat am 2. Mai mal wieder seine Entscheidung vertagt. Für Äthiopiens Regierung ist der Präsident der Lehrergewerkschaft ETA ein Terrorist, für Menschenrechtler ein politischer Gefangener. Helfen soll Taye die Aktion MAYDAY.
Die IG Metall beginnt mit der Aktion am 17. Mai 2002 anlässlich der Jahrestagung von amnesty international.
Vom Offenbacher Künstler Heiner Blum konzipiert, will sie das Schicksal verfolgter Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ins Blickfeld rücken. Für den Auftakt wurden neben Taye der türkische Gewerkschafter Tekin Yildiz und Dan Byung-ho (Südkorea) ausgewählt.
Mit der Aktion startet die IG Metall eine politische Offensive zum Thema »Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte«. »MAYDAY ist Ausdruck unseres Engagements als Menschenrechtsorganisation«, sagt IG Metall-Vorsitzender Klaus Zwickel. »Unser Ziel ist es, Menschenrechtsverletzungen auf nationaler Ebene sichtbar zu machen und mit Hilfe der Kolleginnen und Kollegen im Betrieb sowie breiter Kreise der Bevölkerung den Druck auf jene zu erhöhen, die Verletzungen von Gewerkschaftsrechten zulassen.«
Stellvertretend für mehr als 600 inhaftierte Kolleginnen und Kollegen hat die IG Metall die Namen von drei Gewerkschaftern in großen Leuchtbuchstaben auf Dächer in der Nürnberger Innenstadt anbringen lassen. Sobald einer von ihnen freigesprochen wird, wird sein Name durch den eines anderen verfolgten Gewerkschafters ersetzt. Vor den Gebäuden an der »Straße der Menschenrechte« ist ein Info-Terminal installiert. Die Bürger und Gäste der Stadt können sich über das Schicksal der KollegInnen informieren. Die Aktion soll bundesweit ausgeweitet werden.
Nürnberg wurde als Stadt der Menschenrechte für den Auftakt ausgewählt. Für ihr menschenrechtliches Engagement von der UNESCO ausgezeichnet sei die Stadt der passende Ort, um die Aktion zu starten, betonte Zwickel. »Aus vielen Betrieben liegen Erklärungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten vor, die sich für das Projekt engagieren wollen«, sagt Gerd Lobodda von der Verwaltungsstelle der Nürnberger IG Metall. »Momentan arbeiten wir daran, die Kolleginnen und Kollegen zu vernetzen.« Betriebliche Initiativgruppen werden Patenschaften für Taye Woldesmiate, Tekin Yildiz und Dan Byung-ho übernehmen und sie und ihre Familien moralisch, juristisch und finanziell unterstützen.