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Alarm 
Gouachen / 
1982-1983

 

205 übermalte Zeitungsausschnitte

Museum für Moderne Kunst / Frankfurt am Main

 

Jean-Christophe Ammann über die Werkgruppe »Alarm« von Heiner Blum

Auszug aus einer Laudatio anlässlich der Verleihung des Reinhold-Kurth-Preis der 1822-Stiftung im Kaisersaal des Frankfurter Römers am 23. April 2009 an Heiner Blum

 

Es war ein heißer Tag im Sommer 1989, als ich Heiner in seinem Atelier, damals noch in Frankfurt, besuchte. Im Lauf des Nachmittags zog er eine Schublade aus dem Grafikschrank und zeigte mir Blätter im Querformat, 40 x 50 cm. Insgesamt waren es 205. 

Sie stammten alle aus den Jahren 1982/83. Heiner Blum war damals 23 Jahre alt, studierte »Visuelle Kommunikation« in Kassel. Jeden Tag kaufte er Tageszeitungen der Boulevardpresse, unter anderem »Bild-Zeitung«, »Kölner Express«, »Abendzeitung« und »Express«. Er sammelte aber auch zurückliegende Ausgaben, die er im Sperrmüll fand. Meistens waren es die Schlagzeilen auf der ersten Seite, deren gesamtes Feld – also schwarzer Grund, weiße Buchstaben – er 1:1 kopierte. Er berücksichtigte nur die Worte, die ihn interessierten, den Rest übermalte er mit schwarzer Farbe. »Rest« heißt: das schwarze, geometrisch verwinkelte Feld, in dem sich die Schlagzeilen befanden. Dieses Feld schnitt er aus und montierte es auf einen Papierbogen. Somit waren zum einen harte, sehnsüchtige, brutale Emotionen sprachlicher Natur, zum anderen durch den ursprünglichen Gesamttext bestimmte Formen zu sehen. Ich zitiere mal einige der Worte, die einem in die Augen springen: »Hitler«, »Blutige Spur«, »Tote explodiert«, »ganz einsam«, »Ich«, »Sex«, »Leib«, »Schüsse«, »Mama, Mama!«, »Glück«, »Hoden«, »Tod«, »zerfetzt«, »Rache«, »Liebe«, »Alarm«, »Menschen im Feuer«, »alle tot«, »Plastikherz«, »Angst«, »Nr. 1«, »Hunderte weinten«, »Blutbad«, »Mann Frau«, »Enttäuschte Liebe« ...

 

Der Betrachter erkennt an der Position der Worte, dass diese Teil eines durch die Übermalung ausgeblendeten Zusammenhangs sind, der durch die Übermalung ausgeblendet wurde. Er erkennt aber auch, erfahrungsbedingt, dass die schwarz übermalte Form des Feldes einem bestimmten Typus von Printmedien zuzuordnen ist. 

Eigentlich hätte Heiner Blum diese Arbeit bis heute weiterführen müssen, denn sie beschreibt nichts anderes als den Lauf der Welt: Emotionen, Schicksale und deren Bedingungen. Bezeichnen wir Bedingungen hier als die Formen des Feldes, denen die Inhalte eingeschrieben sind. Oder direkter: Es sind die Inhalte, die die Form des Feldes bestimmt haben. 

 

 

 

 

Diese Arbeit von Heiner Blum hat mich nachhaltig geprägt und zu einer bis heute gültigen Erkenntnis gebracht: Der Mensch besteht wie eine Münze aus Kopf und Zahl. Zum einen aus Zeit, Angst, Tod und Sexualität, zum anderen aus Ordnung und Unordnung (die sich wie der Zufall zur Gesetzmäßigkeit verhält), aus Suchen und Finden und aus dem Ähnlichen und dem Verschiedenen. Die eine Seite ist emotional kodiert: Der Mensch ist ein Klumpen Zeit; Angst ist existenziell, das Gegenteil von Furcht; der Tod ist uns eingeschrieben. Was immer wir tun, tun wir unbewusst gegen den Tod. Ein Mensch, der sich nicht projiziert, regrediert. Die Sexualität ist uns nicht weniger eingeschrieben. Ein jeder ist aufgefordert, das Beste daraus zu machen. In den Worten, sinngemäß, des Nobelpreisträgers, Dichters, Essayisten und Diplomaten Octavio Paz: Sexualität und Sprache sind funktionsbedingt, Erotik und Poesie sind reine Verschwendung, jedoch sagt er, arterhaltende Verschwendung. 

 

Die andere Seite beschreibt die generativen Prinzipien: Ein Mensch, der nur aus Ordnung besteht, ist genauso eine Katastrophe wie einer, der nur aus Unordnung besteht. Sodann: Wer immer nur sucht, verliert sich in der Ferne eines imaginären Horizontes, wer immer nur findet, überlässt sich dem Zufall. Ordnung und Unordnung, Suchen und Finden sind voneinander nicht zu trennen. Sie sind durch und durch komplementär angelegt. Ähnlich und verschieden kann man mit Wiederholung bezeichnen. Wiederholung ist Routine. Ohne Routine läuft nichts. Die negative Seite der Routine ist der Leerlauf. Die positive die Voraussetzung, Neuland zu erkunden, nach vorne zu schauen. 1843 hat Søren Kierkegaard in seinem Buch »Die Wiederholung« geschrieben: »Du musst dich nach vorne erinnern«, anders ausgedrückt: Du musst dich nicht nach rückwärts, sondern nach vorne wiederholen.

 

Auch in tausend Jahren werden die Emotionen und Schicksale, die Heiner Blum gefunden und festgehalten hat, nicht weniger verbindlich sein. In diesen 205 Blättern gleicht kein Feld dem anderen. Jedes ist ähnlich und verschieden, folgt dem Prinzip von Ordnung und Unordnung, enthält das Suchen und Finden in der Darstellung von Form und Inhalt. Es ist diese komplementäre Balance zwischen dem Generativen und jener »Geworfenheit« des Menschen, wie sie Martin Heidegger bezeichnet hat. Eine Balance, die den Gang der Welt bestimmt. 

 

Heiner Blum hat eine Anthropologie geschaffen. Die gesamten 205 Arbeiten, mit dem Titel »Alarm«, befinden sich in der Sammlung des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, und es gibt auch eine Publikation.